von Julius Himmler, Brüssel

Mit Brüssel verbinden die meisten wohl Pommes, Schokolade und die europäischen Institutionen. Als ich vor gut vier Jahren in die „europäische Hauptstadt“ zog, war sie auch für mich noch auf diese Klischees reduziert. Inzwischen habe ich viele ihrer bunten Seiten zu schätzen gelernt. Das vielfältige kulturelle Angebot, die Jugendstilgebäude, zahlreiche Plätze mit Cafés und Bars bieten eine Lebensqualität, die wohl nur wenige Städte bieten können.

Die vorherrschende Verkehrssituation trägt zu dieser Lebensqualität allerdings ganz sicher nicht bei. Eine in meinen Augen verfehlte Steuerpolitik fördert PKWs und macht es dem ÖPNV schwer. Letzterer leidet zudem unter den fragmentierten Zuständigkeiten, die in Brüssel teilweise bizarre Züge annehmen. All dies führt zu alltäglich verstopften Hauptverkehrsadern. Der Begriff „Verkehrsinfarkt“ beschreibt die über lange Strecken stehenden Blechlawinen wohl recht passend. So überhole ich auf dem Fahrrad in knapp 10 Minuten regelmäßig über 50 Autos.

Für einen Sonntag im Jahr dürfen wir in Brüssel jedoch ahnen, wie eine Welt ohne diese Blechlawinen wohl aussähe, die so viel vom öffentlichen Raum dieser Stadt ganz selbstverständlich für sich beanspruchen: 
Am autofreien Sonntag gehört die Stadt ganz den Fußgängern und Fahrradfahrern. Autos sind außen vor bzw. müssen stehen bleiben.

Vorher: Ein normaler Tag auf Brüssels Straßen sieht so aus. – Foto: Privat
Nachher: So sieht es am autofreien Sonntag aus! – Foto: Privat

Wie kam es dazu?

Seine Ursprünge hat der autofreie Sonntag in Brüssel und anderen Städten weltweit in der Suezkrise 1956, bei der Ägypten die Kontrolle über den Suezkanal ergriff und somit faktisch über einen Großteil der Öllieferungen nach Europa. Daraufhin verordneten die Niederlande, Belgien und die Schweiz ein Fahrverbot für mehrere Sonntage an, um der Rohstoffknappheit entgegenzuwirken. Weiteren Vorschub bekam diese Idee, als zwei Jahre später die Bürger eines New Yorker Viertels Autos die Zufahrt versperrten um gegen den Ausbau einer Straße auf Kosten öffentlichen Raumes zu demonstrieren.

Durch die Ölkrise 1973 wiederholten sich die Probleme von 1956, sodass nun auch Westdeutschland und Österreich autofreie Sonntage anordneten. So entstanden ungewöhnliche Bilder von Bürgern, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad Autobahnen erkunden.

Heute kann man auf der Straße spazieren. – Foto: Privat

Bald schlossen sich weitere Städte und Länder auf der ganzen Welt an und der autofreie Sonntag wurde vielerorts zu einer regelmäßigen, jährlichen Einrichtung. War anfangs vor allem die ganz konkrete Sorge um knapper werdende Rohstoffe Anlass für die Fahrverbote, so rückte mit den Jahren der Wunsch nach einem grundsätzlichen Mobilitätswandel immer mehr ins Zentrum der Aktionen. In Brüssel ist der autofreie Sonntag nur der krönende Abschluss der „Mobility Week“, zu der neben der Fahrradmesse „Bike Brussels“ auch viele Workshops, Ausstellungen sowie ein Lastenrad-Wettbewerb gehören.

Für mich persönlich ist dieser Tag in Brüssel immer ein besonderer. Sobald ich das Haus verlasse, spüre ich den Unterschied zu einem gewöhnlichen Tag. Der Geräuschpegel ist deutlich niedriger und ich merke, wie sehr ich mich an das konstante Grundrauschen der Stadt gewöhnt habe. Ich komme an einer Kreuzung vorbei, auf der sich sonst Autos in Zentimeterschritten im Kampf um die Vorfahrt voran schieben. Heute fahren hier Kinder Fahrrad. Vom Platz Flagey gehe ich ein wenig den Berg hinauf. Dort steht an einer sonst chronisch blockierten Kreuzung eine Traube Fahrradfahrer und wartet auf die nächste Ampelschaltung. Die wenigen Fahrzeuge mit Sondergenehmigung fallen kaum ins Gewicht. Von den freien Straßen profitieren auch Busse und Trams, die sich oft genug eine Trasse mit Autos und Lieferverkehr teilen müssen. Heute sind die öffentlichen Verkehrsmittel – die am autofreien Sonntag übrigens kostenlos sind – so populär wie selten.

All diese positiven Effekte sind natürlich zunächst meine ganz subjektive Wahrnehmung, sie manifestieren sich aber auch in konkreten Zahlen der Luftverschmutzung:
 Schon kurz nach der Schließung der Zufahrtsstraßen um 9 Uhr reduziert sich der Gehalt an Stickoxiden in der Luft um über 80% (im Vergleich zu einem regulären Sonntag). Kurz nachdem die Innenstadt um 19 Uhr wieder freigegeben wurde, pendeln sich beide Werte wieder auf das Normalmaß ein, wie diese Grafik mit Daten der Belgischen Interregionalen Umweltagentur verdeutlicht:

Und in Frankfurt?

Gemeinsam mit Paris ist die Stadt Brüssel bestrebt, aus der lokalen eine europäische Initiative zu machen und einen autofreien Tag für Europa einzuführen. In Frankfurt haben CDU, SPD und Grüne 2016 in ihrem Koalitionsvertrag festgehalten, „künftig jeweils im Sommerhalbjahr (…) einen autofreien Sonntag veranstalten“ zu wollen.

Dass dies bisher noch nicht in die Tat umgesetzt wurde, liegt laut Verkehrsdezernent Klaus Oesterling an Sicherheitsbedenken so wie praktischen Problemen bei der Umsetzung. In Paris, wo die Champs-Elysée jeden ersten Sonntag im Monat für Autos gesperrt ist, gebe es nicht „diese kleinteiligen Verhältnisse wie in Frankfurt“ und außerdem viel weniger Zufahrtsstraßen.

Wer Brüssel ein wenig kennt, weiß: Diese Stadt ist kleinteilig. Ganz sicher ist der organisatorische Aufwand für Stadtverwaltung und Polizei groß. Allerdings lässt sich wohl nur durch einen autofreien Tag wirklich für jeden ganz konkret erleben, wie das Stadtleben wohl nach einer Mobilitäswende aussehen könnte und an welche Belastungen wie Lärm, Luftverschmutzung und Platzmangel wir uns inzwischen gewöhnt haben. Immer wieder treffe ich Menschen, die mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Freude vor der veränderten Erscheinung ihrer Stadt stehen.

Ich denke, was Brüssel zusammen mit viele anderen Städten wie Bogota, Warschau, Reykjavík, Jakarta und Paris hinbekommt, schaffst du auch, Frankfurt, oder?

Julius Himmler lebte viele Jahre in Frankfurt, bevor es ihn aus beruflichen Gründen nach Brüssel verschlug. Er ist Cellist bei Brussels Philharmonic und beobachtet aus der Ferne, wie Frankfurt fahrradfreundlicher wird.