Themenreihe von Beatrix Baltabol und Rebecca Faller

Neue Verkehrskonzepte, ein verändertes Mobilitätsverhalten, der Trend zum Fahrradfahren, der „Dieselskandal“ und drohende Fahrverbote machen das Thema „Verkehr und Stadt“ aktueller denn je. Die auftretenden Konflikte zwischen den Verkehrsteilnehmern im öffentlichen Raum erfordern ein Um- und Neudenken in der Verkehrs-, Stadt- und Freiraumplanung.

Stadt- und Verkehrsplanung werden oft getrennt voneinander betrachtet. Dabei geht der Blick für Straßen als städtische Aufenthaltsräume verloren, sie werden nicht als urbane Orte sondern als Verkehrsschneisen wahrgenommen, deren Zweck vordringlich in der möglichst reibungslosen Abwicklung des motorisierten Verkehrs besteht.

Mit der Themenreihe „Straßen als Lebensraum – Zukunftsvisionen für Frankfurt“ möchten wir in mehreren Beiträgen den Blickwinkel zurück auf Straßen als urbane Räume lenken und Zukunftsperspektiven für große Frankfurter Hauptverkehrsstraßen entwickeln.

Stadtstraßen neu denken!

Bild: Faller, R.

#01: Stadtachsen: Verkehr vs. Urbanität

Seit jeher gliedern und strukturieren Straßen den Grundriss von Städten. In der Mitte des 19. Jahrhunderts, etwa mit Einsetzen der Gründerzeit, entwickelte sich in Europas Großstädten ein neuer Straßentyp: breit angelegte, repräsentative Boulevards und Hauptstraßen, die nicht mehr nur der Verbindung und Erschließung, sondern auch dem Aufenthalt dienten. Sie stellten die Bühne für das städtische Bürgertum dar, auf der man flanierte und gesehen werden wollte. Oft entstanden diese großen Achsen im Zuge von großangelegten Stadterweiterungen wie in Barcelona, Berlin oder Wien.

Wien, Ringstraße 1873  Foto: www.habsburger.net

Diese großen Stadtachsen bildeten das Rückgrat der Stadt. Sie entstanden in der Regel in vorautomobiler Zeit und stellten prächtige urbane Räume mit hoher Aufenthaltsqualität dar.

Öffentliches Leben auf einem Pariser Stadtboulevard um 1900  Foto: Wikimedia

In den 1950-1970 Jahren erfolgte ein radikaler Umbau der großen Stadtadern nach den Grundsätzen der autogerechten Stadt. Im Fokus stand nun die reibungslose Abwicklung des motorisierten Individualverkehrs. Heute spricht man eher von Ein- bzw. Ausfallstraßen, was die Reduzierung ihrer Funktion auch sprachlich verdeutlicht. Aus den einstigen Räumen öffentlichen Lebens wurden Verkehrsräume ohne Aufenthaltsqualitat, die Barrieren innerhalb des Stadtgefüges bilden.

Frankfurt am Main, Mainzer Landstraße heute Foto: Faller, R.

Nicht nur der Autoverkehr, auch die zunehmende Urbanisierung führen zum weiteren Verlust von innerstädtischen Freiräumen. Immer mehr Menschen ziehen in die Stadt und benötigen dort ausreichenden Platz für öffentliches Leben.
Auch Frankfurt ist eine stark wachsende Stadt, deren Einwohnerzahl in den letzten Jahren jährlich um ca. 10.000 Einwohner gewachsen ist. Um die Lebensqualität zu sichern, werden hochwertige Freiräume benötigt: öffentliche Räume und Grünflächen für spontane Begegnungen, zum Aufenthalt und zur Erholung. Und das nicht nur am Stadtrand, sondern auch im unmittelbaren Wohnumfeld.

Seit einigen Jahren zeichnen sich Tendenzen ab, Stadtstraßen wieder mehr in den Fokus von städtebaulichen Betrachtungen zu rücken und ihre Funktionen und Potentiale neu auszuloten.
Eine Umgestaltung dieser großen Verkehrsachsen bietet die Chance, einen Beitrag zur Zukunftsfähigkeit der Städte zu leisten.

Wenn Straßen nicht mehr nur als Transportweg dienen, sondern wieder zu Räumen des Aufenthalts und der Begegnung werden, könnten für die Stadtgesellschaft neue Freiräume geschaffen werden. Auch hier in Frankfurt!

Frankfurter Radial- und Ringstraßen

In Frankfurt prägen vor allem die aus dem Stadtzentrum bis weit ins Umland laufenden Radialstraßen und die beiden Ringstraßen – Alleenring und Cityring – den Stadtgrundriss.
Die großen Frankfurter Radialstraßen wurden in der Regel nicht gezielt angelegt, sondern entstanden aus Verkehrsbeziehungen zwischen umliegenden Orten und der Stadt Frankfurt. Ursprünglich waren sie weit über Land führende, ungepflasterte Wege oder Alleen. Mit dem Stadtwachstum wurden sie mehr und mehr Bestandteil des Stadtgefüges, und die umliegenden Orte, zu denen sie ursprünglich führten, wurden in vielen Fällen Teile des Frankfurter Stadtgebietes.

Übersicht der Frankfurter Radial- und Ringstraßen  Bild: Faller, R.

Die Frankfurter Stadtachsen waren weniger repräsentativ als die großen Boulevards in Paris, Berlin, Wien und Barcelona, gleichwohl entwickelten sie sich zu wichtigen innerstädtischen Hauptstraßen und attraktiven Wohnstandorten. Auch der neue Frankfurter Nahverkehr in Form von Pferde- und Dampfbahnen folgte dieser Stadtentwicklung. Die Stadtbahnlinien verliefen in der Regel vom Zentrum aus entlang der Radialstraßen. Die Straßen waren wichtige Orte des städtischen Lebens geworden und bildeten häufig den Mittelpunkt der umliegenden Quartiere.

Frankfurter Radialstraßen als Verbindung zum Umland und Rückgrat der umliegenden Wohnquartiere

Stadtplan Frankfurt am Main, August Ravenstein, 1880
Friedberger Landstraße um 1910

Der Stadtplaner und Sozialwissenschaftler Harald Bodenschatz bezeichnet die Zeit um 1910 als
„die größte Blütezeit der großstädtischen Hauptstraßen“ „Wie schon im antiken Rom waren die Hauptstraßen beides zugleich: Durchgangsräume und Verweilräume. […] Zusammen bildeten sie einen einzigartigen Reichtum urbaner Räume den nur Großstädte besaßen. Die Hauptstraßen mit ihren Gebäuden waren aber nicht nur für das Funktionieren, das Bild und die Repräsentation der großen Städte unverzichtbar. Sie waren auch der Stolz der umliegenden Stadtteile, sie stifteten deren Identität.“
(Quelle: Bodenschatz, Harald; Hofmann, Aljoscha; Polinna, Cordelia (Hg.) (2013): Radialer Städtebau. Abschied von der autogerechten Stadtregion. Berlin: DOM publishers (Grundlagen, 23)).

Mit dem Aufkommen des Automobils kippte die Funktion der Ausfallstraßen vom Lebens- und Aufenthaltsraum zum reinen Verkehrsraum. Heute sind die Radial- und Ringstraßen stark verkehrsbelastete, trennende Bänder im Stadtgefüge. Obwohl viele von ihnen noch wichtige Funktionen in der Nahversorgung und dem sozialen Leben der durchquerten Stadtteile spielen, werden Fußgänger und Radfahrer durch die Kfz-Infrastruktur an den Rand gedrängt.

Das „Frankfurter System“ als Chance – Radial- und Ringstraßen und drei Grüne Ringe

Betrachtet man Frankfurt aus der Luft erkennt man, große Ring- und Radialstraßen sowie drei grüne Ringe – Anlagenring, Alleenring und GrünGürtel. Die großen Verkehrsschneisen bilden zusammen mit den „grünen Ringen“ eine Struktur bzw. ein Netz, das wir im Folgenden mit dem Begriff „Frankfurter System“ bezeichnen. Die Frankfurter Wallanlagen und der Alleenring nehmen in diesem System eine Sonderrolle ein, da es bei Ihnen zu einer Überlagerung der Funktionen kommt. Sie stellen neben großen Verkehrsachsen auch Freiräume innerhalb der Stadt dar und bieten so das Potential der Verbindung, Überlagerung und Vernetzung der großen Stadtachsen mit den Grünräumen.

 

Die Frankfurter „Grünen Ringe“ – Wallanlagen, Alleenring und GrünGürtel Bild: Faller, R.

Grüne Ringe

Die drei markanten Frankfurter Grünen Ringen sind große Frei- und Erholungsräume, die eine wichtige soziale und klimatische Bedeutung innerhalb des Stadtgefüges besitzen.
Anders als New York mit dem Central Park, London mit dem Hyde Park oder München mit dem Englischen Garten, ist die Stadt Frankfurt jedoch nicht für ihre stadtbildprägenden Freiräume bekannt.

Für die zukünftige Entwicklung der Stadt stellen die Grünen Ringe unserer Meinung nach wichtige Potentialräume dar, deren Existenz und Weiterentwicklung in der derzeitigen Stadt- und Freiraumpolitik kaum Beachtung finden. Unser Ziel ist es, ihr Vorhandensein und die Potentiale wieder in das Bewusstsein von Planern, Politikern und der Bevölkerung zu bringen und zusammen mit der Umgestaltung der städtischen Hauptachsen ein rad- und fußgängerfreundliches grünes „Radial-Ring-System“ zu entwickeln.

Zukunftsvision für Frankfurt: rad- und fußgängerfreundliches „Radial-Ring-System“ Bild: Faller, R.

Ausblick 25. November 2018:

Teil #02 „Straßen als Lebensraum – Zukunftsvisionen für Frankfurt“:

Vom Alleenring zum Alleenpark

Beatrix Baltabol ist Architektin in Frankfurt mit einem zusätzlichen Masterabschluss in Stadt- und Verkehrsplanung.

Rebecca Faller ist Landschaftsarchitektin mit einem zusätzlichen Masterabschluss in Stadtplanung.